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Andreas Löhrer   
literarische Übersetzungen    
aktualisiert am 10.4.2024    

Maurizio Maggiani: Reisende in der Nacht

Hört zu, es ist noch Sonnenuntergang über dem Hügel des Assekrem. Gelb, ocker, hellblau, ultramarin, karminrot. Himmel, Erde, Berge und Täler. Alles.
Doch unten in den Schluchten ist schon Dämmerung und Nacht. Rosa, verbrannte Erde, violett, schwarz. Das Nichts dort unten.
Die Luft ist so rein, dass die Kräuselung des letzten Horizonts am anderen Ende der Welt sein könnte. Wenn die Erde flach wäre. Und das Ende des Tals, auf dem der Felsen des Assekrem ruht, der Mittelpunkt der Erde. Wenn das Herz der Erde kalt wäre wie die Felsspalten zu dieser Abendzeit.

Ich sitze auf einem Steinhaufen. Die Steine sind identisch mit anderen Milliarden von Steinen, die über diese Steinwüste verstreut sind, aber sie sind mit höchster Sorgfalt aufgestapelt: ich sitze auf einem Grabmal.
Dem Grab eines Mannes.
Manche sagen, dass dieser Mann von Leuten aus demselben Nomadenstamm getötet worden sei, der die Männer hervorgebracht hat, die in der Steinhütte hinter mir geschmortes Lammfleisch essen. Andere sagen, er sei von Provokateuren einer Spezialeinheit der französischen Gendarmerie getötet worden. Es waren komplizierte Zeiten, als er getötet wurde.
Er war auch ein komplizierter Mensch. Er war Berufsoffizier des Heeres, Atheist, Priester, Poet, er war Einzelgänger, er war stolz und überheblich, er war demütig und barmherzig. Er ließ sich "Père", Vater, nennen.
Vielleicht hatte er Kinder, vielleicht hatte er sie von den Schwestern der Männer, die ihn getötet haben, vielleicht gar von ihren Ehefrauen. Wenn er Kinder hatte, dann sind sie heute Menschen, die wiederum Kinder bekommen haben und die Kinder vielleicht wieder Kinder. Diese Menschen wissen bestimmt nicht, wer ihr Vater war, die Kinder wissen nicht einmal, dass ihr Großvater existiert hat. Besser so, die Zeiten sind wieder kompliziert geworden.
Alles, was man jetzt noch aus diesem Mann unter diesen Steinen herausholen kann, sind Bücher. Bücher, die in Bibliotheken aufbewahrt werden, die viele Tausend Kilometer vom Assekrem entfernt sind, die in Läden verkauft werden, die das Geld nicht akzeptieren würden, das in dieser Gegend im Umlauf ist. Obwohl er seine Bücher hier geschrieben hat, genau in der Hütte, wo gerade geschmortes Lammfleisch gegessen wird. Bücher über die Schlichtheit. Über die Schlichtheit Gottes, über die Schlichtheit der Menschen, über die Schlichtheit dieser unendlichen Wüste. Bücher, die nicht im Katalog verzeichnet sind: eine weitere Komplikation.

Ich bin nicht wegen dieses Grabs gekommen. Es ist ein Zufall, dass ich darauf sitze. Über all das hier oben weiß ich wirklich wenig.
Ich weiß, dass Père Foucauld diesen Ort gewählt hat, um eine Hütte zu bauen und dort zu leben und zu sterben, denn dieser Ort schien von seinem Standpunkt aus der Mittelpunkt des Universums zu sein.

Sein Standpunkt war der der Schlichtheit. Das wesentliche Universum. Nach dem, was ich sehe, kann er recht gehabt haben.
In Wirklichkeit sitze ich, vom Standpunkt eines Geologen aus gesehen, ganz oben auf dem Arsch der Welt. Auch der Beamte, der mir vor ein paar Wochen das Transitvisum gestempelt hat, teilt den Standpunkt der Geologen. Dass ich es geschafft habe, mich vor diesen unvergleichlichen Sonnenuntergang hinzusetzen, wenn ich will, durch ein Gebiet von zirka einhundertfünfzigtausend Quadratkilometern - eine ungewisse Zahl angesichts der unklaren Grenzen - zu ziehen, Dutzende von Bergketten, die es hier gibt, hinauf- und hinunterzuwandern, Wasser aus den dreizehn verzeichneten und ausgeschilderten Quellen zu schöpfen, auf den drei großen Pisten hin- und herzufahren, die das Gebiet durchqueren, und auf den vielen kleineren, die es durchschneiden, das alles, und was ich mir sonst noch einfallen lassen kann, hat mich ein Bakschisch von dreißigtausend afrikanischen Francs gekostet. Ein Spottpreis. Ein unwiderrufliches Urteil.

Das ist wirklich der Arsch der Welt, das ist wirklich der Mittelpunkt des Universums. Alles, was ich gerade betrachte, soweit meine unvollkommene Sehkraft reicht, und also auch noch darüber hinaus, ist aus einer einzigen Materie geschaffen. Urgestein, Kristalle des Silur, Basalt aus den Anfängen. Hier hat die Erde, noch zu jung, um sich zurückzuhalten, ihr Herz herausgepresst. Oder ihr Gedärm, je nachdem, wie ihr die Dinge seht.
Dies ist schon vor einer halben Milliarde Jahren geschehen. Und nichts Lebendiges hat hier im Laufe der Zeit mit ausreichender Hartnäckigkeit verweilt, um dauerhafte Wurzeln zu schlagen.
Mir wurde gesagt, wegen des Windes. Der erbarmungslos ist, der Tausende von Kilometern bis hierher weht, ohne dass ihn etwas aufhält oder auch nur soweit verlangsamt, dass es ihn bändigen würde.
Zur Zeit ist der Mittelpunkt des Universums eine Aufwallung der Erde, in reinstem Kristall gefasst. Der Hoggar. Schlichtheit.
Der erste Baum ist einen Tag mit dem Jeep entfernt, einen zweiten und einen dritten gibt es, soweit ich weiß, gar nicht, wenigstens nicht bis zur ersten Stadt, zwei Tagesreisen entfernt.
Wenige Tage, nachdem ich an diesen Ort gekommen war, ging ich mir diesen Baum ansehen, er ist die Haupttouristenattraktion im Mittelpunkt des Universums.

Ein äußerst übler Kerl hat mich hingebracht, ein Schmuggler, ein Targi. Ein Berber aus der inneren Wüste, die gefürchtete Tuareg-Variante des Hoggar.
Der Targi kam zur Hütte, um Seife an die Soldaten zu verkaufen. Seit Père Foucauld tot ist, dient seine alte Hütte vielen nützlichen Zwecken; sie dient als Nachtlager für die Reisenden, die ins nackte Herz des Universums vorstoßen wollen, als Observatorium für die Geologen, die den Arsch der Welt studieren, als Wachtposten für die algerischen Soldaten, die den Schmuggel unterbinden sollen. Die Soldaten brauchen Seife und auch ich brauchte welche. Für zehntausend afrikanische Francs habe ich drei Stück in einer schönen zitronengelben Farbe gekauft.
Als der Targi sah, dass ich gern Geld ausgab, nahm er mich beim Arm und brachte mich zum Steinhaufen von Père Foucauld. Er sprach das Dreißig-Wörter-Französisch der Schmuggler, die durch die Sahara ziehen, das auch ich auf die Schnelle gelernt habe. Er zeigte mir das Panorama, auf das er mit seinem Gewehr wies. Er sagte mir, dass das, was ich sah - und ich sah die Sonne aufgehen in dieser Unmenge von Bergen und Tälern und Felsspalten und Steilhängen und wieder Tälern und wieder Schluchten und Hügeln, auf denen ich sie jetzt untergehen sehe - , ja, dass all das nicht die größte Schönheit des Hoggar sei. Wenn ich wollte, würde er mich zur seltensten Schönheit bringen. Wenn ich wollte, für weitere zehntausend Francs und einen Kanister Benzin für den Jeep.
Er hat es mir vor verschiedenen Zeugen gesagt, die ihm oder mir glaubwürdig erschienen, also war er zur Wahrheit verpflichtet. Ich bin mitgegangen, denn eines der ersten Dinge, die man mir beigebracht hat, ist, dass die Tuareg keine Fremden töten oder ausrauben, die ihre Gäste gewesen sind, und sei es auch nur in ihrem Toyota.

Ich habe das Wunder des Hoggar besichtigt, als es bereits Mittag war und die halbgeschmolzenen Reifen des Jeeps begannen, im Staub der Piste einzusinken. Es herrschte eine so große Hitze, dass sich der Schweiß auf der Haut zerstäubte.
Da war ein Felsen, ein sehr hoher Ausläufer, der senkrecht und spitz aus dem dort in der Gegend verstreuten Schutt herausragte. Er war von einem Spalt geteilt, der ihn in seiner ganzen Höhe durchzog. Im schwarzen Schatten des Spalts hing ein feiner Lichtstrahl, der etwas Grauem und Silbernem Gestalt verlieh. Der Targi gab mir ein Zeichen, und ich ging es von nahem betrachten. Und als ich die Schwelle dieser Art Schattentabernakel überschritt, hob ich eine Hand in Richtung des Silber und berührte ein kleines Olivenbaumblatt.
Der Stamm war versteinerter Knochen, ein dicker, von Adern durchzogener, korrodierter Oberschenkel, die Zweige waren verkrümmtes Reisig, wie Heidekraut nach einem Brand. Aber die Blätter waren Olivenbaumblätter. Zwanzig, dreißig, nicht mehr. Grün und silbern, wie sie sein sollen: einfach, normal. Ich kenne die Olivenbäume.

Was empfindet man, wenn man mitten in einer Wüste, zweitausend Kilometer vom nächsten Meer entfernt, einen Olivenbaum berührt? Ein Olivenbaum, der nicht da sei dürfte, der aber doch da ist, und der wahrscheinlich seit ein paar Jahrtausenden da ist. Vor dreitausend Jahren wurden in diesem Teil des Hoggar noch Tiere geweidet. Nicht weiter als einen Tag von hier, in einem Spalt, der kaum anders ist als der, in dem das Wunder des Hoggar wächst, gibt es zehntausend Jahre alte Graffiti mit Weide- und Jagdszenen. Aber keine Zeichnung von einem Olivenbaum.
Also, was empfindet man? Ich war bestürzt. Denn, so dachte ich, es ist nicht gut, wenn etwas, das lebt, zu lange anhält, dass es über die Zeit und die Epoche hinaus anhält, die jedem Ding zusteht. Jetzt lebt dieser Olivenbaum im Schmerz, dachte ich, in einer Zeit, die nicht die seine ist. Er hat seine Wurzeln in der Einsamkeit.
Und ich verspürte Angst. Und ich dachte weiter: es ist nicht gut, dass dieser Baum da ist, es ist überhaupt nicht gut, dass er die Wüste und ihre vollkommene Schlichtheit mit der Unordnung seiner Gegenwart durcheinanderbringt. Ich bin ganz und gar nicht froh, ihn gesehen zu haben.
Ich hatte Unrecht, aber das konnte ich nicht wissen.
Der Schmuggler hatte unter der stechenden Sonne vier Steine gesammelt und sie hingelegt, damit sie für sein Mittagsgebet die Moschee darstellten. Und er betete, ohne die Hitze oder mich zu beachten, und ohne das geringste Interesse an der seltensten Schönheit des Hoggar. Er betete, so vermute ich, für seine Seife, die den Sudan erreichen sollte, für sein Gewehr, das nicht im falschen Moment klemmen sollte, er betete für sich und für seine Kinder, wenn er welche hatte. Er betete für eine Menge nützlicher Dinge.
Père Foucauld dachte, dass der Mittelpunkt des Universums in seiner absoluten Schlichtheit reich an nützlichen Dingen sei. Er dachte, dass es nur bei einem ungenauen Blick so aussah, als sei es ohne nützliche Dinge. Und er meinte, dass Schönheit und Nützlichkeit ein und dasselbe sei; ein Einunddasselbe, das mit Gott zu tun hatte. Ich glaube, er hatte eine andere Meinung als ich über den Olivenbaum im Hoggar und über die Ordnung der Dinge im allgemeinen. Doch ich wusste damals noch nichts über den Hoggar. Am Tag des Ausflugs zum Wunder war ich ein absoluter Fremder in einer öden, unbekannten Ebene. Jetzt habe ich etwas gelernt.

aus: Maurizio Maggiani: Reisende in der Nacht. Edition Nautilus, Hamburg 2007
mit freundlicher Genehmigung der Edition Nautilus

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