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Andreas Löhrer   
literarische Übersetzungen    
aktualisiert am 10.4.2024    

Maurizio Maggiani: Königin ohne Schmuck

Sie trafen sich im Vico Cavoli, einem kurzen Gäßchen, einen Katzensprung vom Vico Pietre und dem Laden von Giggi dem Lumpensammler entfernt.

Es gab keinen Vorsatz, bei keinem von beiden, doch es konnte nicht anders kommen: die Gasse war eng, sehr eng. Und stockdunkel zu jener Tages- und Jahreszeit, es war so dunkel, daß man die Hand nicht vor dem Gesicht sehen konnte. Mit Ausnahme eines Lichtstrahls genau in der Mitte, der aus dem Spalt zwischen den beiden Gebäuden der Gasse herabfiel. Das Licht war vom aufgewirbelten Staub getränkt, den ein Mann, der Bäcker aus dem Vico Cavoli, in die Luft verteilte, als er seinen Laden aufräumte. Auf der Türschwelle fuchtelte er mit den Armen in der Sonne herum, um Säcke und Siebe und Backbleche umzudrehen, auszuschütteln und abzufegen. Er tat dies mit soviel Eifer, daß es ihm sichtlich Spaß machte. Wie aus dem Mund eines Feuerschluckers stiegen vom Boden Wolken aus Spreu und Mehl auf, die die Sonne golden und silbern einfärbte; der Bäcker stand da und schaute mit hochgereckter Nase, als ob man ihm an einem Feiertag die Freude nehmen wollte, wieder kindisch zu werden, ihm, der schon drei Kinder hatte und sie zum Spuren brachte wie die kleinen Matrosenzöglinge auf dem Schulschiff Garaventa.

Sascia ist von San Cosimo abgebogen und geradewegs in den Lichtkegel hineingetreten; das plötzliche Licht nimmt ihr für einen Augenblick die Sicht. Genau in diesem Moment kommt Paride aus dem Vico del Coro und ist einen Schritt hinter ihr. Seine Augen sind, vom Tangoblick abgesehen, aufmerksame Augen, durchtriebene Augen; aber auch für sie ist es nicht einfach, sich ein Bild von der Entdeckung zu machen, die sie im Gäßchen jenseits des dunklen Morgens, an den sie sich gewöhnt haben, erwartet. Ein Sonnenstrahl, dicht wie der Streifen eines Bordscheinwerfers, im Strahl ein wahnsinniger Wirbel, und mittendrin die Silhouette eines sich bauschenden Rocks, der vorbeigeht und sich im Lichtfluß auflöst, wie in der Schlußszene eines sentimentalen Films. Wenn die Augen des Onkels nicht von der Bagona ruiniert worden wären, hätten sie die Originalszene eines Gemäldes sehen können, das im Schlafzimmer des Palazzo am Kopfende des Bettes hing: die Himmelfahrt der Jungfrau Maria. Paride sieht und sieht doch nicht, und um etwas mitzubekommen, hält er sich die Hand vor die Augen. Durch diesen Schutz sieht er, wie die Himmelfahrt die neblige Lichtsäule durchschreitet und sich im Schatten verliert, begleitet von den harten Schlägen des Absatzes eines Frauenschuhs auf dem Pflaster: Sascia nimmt im Schatten wieder die Wahrscheinlichkeit dessen an, was sie ist. Paride strengt seinen Grips an, und schon wird sein fassungsloser Blick wieder forschend. Doch plötzlich kommt eine Horde Tauben im Sturzflug vom Himmel herabgeschossen, wirbelt die Luft durcheinander, und alles im Gäßchen geht drunter und drüber.

Fast niemand in der Stadt mag Tauben. Das graue und verlauste Gefieder der Stadttauben erweckt keine Zärtlichkeit, und ihre Angewohnheit, sich am Boden im Müll zu tummeln, erregt sogar etwas Ekel. Sie gefallen nur ein paar Alten, die noch einen Taubenschlag auf dem Dach haben, und diese Alten mag wirklich niemand. Die Leute denken, es müßte sich um schmutzige Alte handeln, die immer voller Taubendreck sind, auch wenn das nicht stimmt. In einem der beiden Gebäude des Vico Cavoli wohnt oben auf dem Dach ein Taubenzüchter, ängstlich und störrisch wie seine wenigen Kollegen. Es ist ein guter Alter, der prächtige polnische Silbertauben aufzieht, die letzten Abkömmlinge der Meisterrasse der Brieftauben, die noch vor hundert Jahren in ganz Europa die Briefträger waren und am linken Fuß den Ring mit dem Siegel der Gesellschaft von Thurn und Taxis trugen. Jeden Morgen, wenn schönes Wetter ist, geht der kleine Alte in den Verschlag auf dem Dach und dressiert die Tauben. Die haben nichts mehr, was sie über den Kontinent hin und her tragen können, doch sie bemühen sich, in Formation über das Viertel zu fliegen, um ihrem Herrn eine Freude zu bereiten, und sehnen sich einzig danach, so schnell wie möglich zu ihrem Vogelfutter zurückzukehren. An diesem Morgen haben sie wie immer den Flug aufgenommen, mit der Absicht, unter Ausnutzung des Mistral vielleicht ein paar Runden mehr zu drehen. Der Leitvogel hat sie in die Höhe gebracht, doch noch bevor sie sich in ihrer eleganten Paradeformation aufreihen konnten, hat er den Gegenbefehl gegeben, indem er plötzlich und überstürzt hinabglitt. Seinen Augen schien es, als wäre unten in der Gasse das Schlaraffenland geöffnet worden: Hunderte, Tausende von Körnern zartesten Weizens schauten unter einer Wolke von Spreu auf dem Pflaster hervor. Die Tauben haben stets einen guten Appetit, und außerdem sind sie auch noch verrückt, jeder kann das bestätigen. Es genügt, sie an diesem Morgen zu sehen, wie sie sich zusammengedrängt kopfüber in den Spalt der Gasse stürzen und eine auf der anderen landen, wobei sie wie verrückt mit den Flügeln schlagen, um sich nicht zu zerquetschen. Und alle enden auf, unter und um Sascia herum.

Sascia hat keine Angst vor Tauben, wenn sie sie auch nicht angenehm findet. Sie weiß, daß sie sie kaum picken oder ihr wehtun können. Doch in diesem engen Durchgang, in diesem diffusen Licht, an diesem Morgen der Rache möchte sie in Ruhe gelassen werden, möchte, daß man sie respektiert, daß man wenigstens darauf verzichtet, mit Fäusten in der Luft herumzufuchteln. Und zumindest soll man bloß nicht versuchen, auf ihr Kleid, oder noch schlimmer, auf ihre Haare zu scheißen. Vielleicht ist es eher Bestürzung als Zorn, jedenfalls läßt sie ihr Bündel zu Boden fallen und fängt an, mit den Armen und Beinen um sich zu schlagen und zu treten. Die prächtigen polnischen Tauben entfernen sich nur so weit, daß es ihnen noch möglich ist, weiterzupicken, und sie schenken der Tatsache, daß dies Sascia noch nervöser macht, nicht die geringste Beachtung; als diese sie so völlig gleichgültig sieht, schlägt und tritt sie noch heftiger um sich. Als würde sie sie nicht kennen, die Tauben.

Sie ist außer Atem, zerzaust und völlig verwirrt, und die Vögel sind noch immer da und tollen flügelschlagend herum, streiten sich untereinander und versuchen vielleicht, sie mit Taubendreck zu bespritzen, da, wo sie es nicht sehen kann. Ihr bleibt nichts anderes übrig, als die Bücher wieder aufzuheben und sich schnell davon zu machen. Sie bückt sich und verdreht sich, um den Rock zurecht zu rücken - den langen Faltenrock, auf den sie stolz ist, selbst genäht und der letzte Schrei der Mode - und dann richtet sie sich wieder auf.

Gleichzeitig, als ob diese kurze, einfache Bewegung ihres Körpers von unten nach oben sie in den leibhaftigen Fürsten von Thurn und Taxis verwandelt hätte, der seinen Prachtexemplaren das Zeichen gibt, stiebt die Taubenschar davon. Und es erhebt sich eine schäumende Sturzwelle und öffnet sich fächerförmig um eine Galionsfigur, die wer weiß warum in der Brandung zurückgelassen wurde; Sascia würde vor Empörung am liebsten weinen und schreien, wenn sie nicht das Mädchen mit den zusammengepreßten Lippen wäre, das tüchtige Mädchen, das weiß, wie es die Augen halten muß, damit keine Tränen vergossen werden. Sie drückt ihr Bündel zwischen die Arme und sucht einen Fluchtweg zwischen den Federn, die um ihr Gesicht herumschweben; sie hat noch keinen Schritt getan, da sind die Vögel bereits auf den Dächern. Jetzt, zwischen den letzten fallenden Federn, sieht sie zum ersten Mal Paride.

Zunächst nicht den ganzen Paride, sondern nur seine Hand. Parides Hand, die eine zuckende Silbertaube festhält. Mit einer eleganten und freundlichen Geste hält ihr diese Hand eine Taube unter die Nase. Einfach so, als Geschenk. über der Hand ist Parides Gesicht, und im Gesicht sind seine Augen, die sie ansehen. Sie starren sie nicht an, sie erforschen sie nicht, sie zwinkern ihr nicht zu: sie sehen sie an. Im Inneren bewegen sie sich leicht, wie zum Gruß. Dann öffnet sich die Hand und der Vogel breitet in aller Ruhe seine Flügel aus und fliegt davon. Wenn Sascia nicht ihre Augen von der Taube gelöst und diesem Blick zugewandt hätte, dann hätte sie nun den Mund aufgemacht, um ein paar von diesen Worten zu sagen, die sie sich gemerkt hat, wenn sie ihre Freundinnen, die Signorine, über die Schufte hat reden hören, die ihnen ihr Gefühl zerstört haben. Doch die Augen dieses Mannes sagen ihr etwas, und sie hört zu. Nicht sehr lange, selbstverständlich. "Das ist ein Verrückter", denkt sie, und mit einem Schauder dreht sie sich um und geht.

Im Laufe ihres Lebens wird Sascia oft an den Sonntag der Tauben zurückdenken, und nicht immer im selben Gemütszustand. Dennoch wird sie, solange sie lebt, der festen Überzeugung bleiben, daß Paride an jenem Morgen seine bemerkenswerteste und unbedachteste Unternehmung vollbracht hat. Sie wird mit ihrem Mann nie darüber sprechen - das sind keine Dinge, die zwischen ihnen besprochen werden können -, und für sie wird es also ein ungelöstes Rätsel bleiben, wie er mitten in diesem Durcheinander im Vico Cavoli diesen Vogel im Flug hat ergreifen und ihr schenken können. Warum hat er es getan? Hat man je von einem gehört, der mit einer Taube ein Mädchen erobert hat? Nein. Doch Paride hat Sascia erobert, das ist unbestreitbar. Nur daß Sascia das nicht begreifen kann und geneigt ist, daran zu zweifeln, was aufgrund dieser Taube geschehen sein mag. Also, aufgrund von was, in Anbetracht dessen, daß alles dort seinen Anfang findet? In Anbetracht dessen, daß Paride in ihren Augen nie mehr etwas Aufregenderes, etwas Liebevolleres tun wird.

Jawohl, etwas Liebevolleres.

aus: Maurizio Maggiani: Königin ohne Schmuck. Edition Nautilus, Hamburg 2001
mit freundlicher Genehmigung der Edition Nautilus

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