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Andreas Löhrer   
literarische Übersetzungen    
aktualisiert am 10.4.2024    

SERGIO ATZENI

Im September 1995, im Alter von 42 Jahren, wurde Sergio Atzeni auf der Insel San Pietro im Südwesten Sardiniens von einer riesigen Welle vom Felsen gespült, auf dem er saß, um das stürmische Meer zu betrachten. Der Tod erreichte ihn auf eine Art und Weise, die geradezu eine Schilderung aus einem seiner Romane sein könnte. Zu Hause auf seinem Schreibtisch fand man das fertige Manuskript für ein neues Buch: Bellas mariposas (schöne Schmetterlinge), zwei Erzählungen. Zu seinen Lebzeiten hatte Atzeni drei Romane veröffentlicht und war gerade erst als Autor auf dem italienischen Festland bekannt geworden. Seine Karriere als in ganz Italien anerkannter Schriftsteller hätte beginnen können.

Sergio Atzeni wurde in Capoterra, Provinz Cagliari, geboren. Schon auf dem Gymnasium fing er zu schreiben an. Er begann ein Philosophiestudium an der Universität Cagliari. Nach Abbruch seines Studium arbeitete er zehn Jahre lang in der Datenerfassung beim staatlichen Elektrizitätswerk ENEL und war als Journalist u.a. für die sardische Tageszeitung Unione sarda, aber auch für die kommunistische Unità tätig. Außerdem arbeitete er mit einem freien Radiosender zusammen.

1986 verließ Atzeni Sardinien, reiste eine Zeitlang durch Europa und lebte dann in Parma und Turin, wo er als Literaturübersetzer tätig war. Er übersetzte Texte von Levi-Strauss und Victor Serge und u.a. einen Roman des Goncourt-Preisträgers Patrick Chamoiseau aus Martinique (Texaco).

1986 erschien Atzenis erster Roman Apologo del giudice bandito (Die Fabel vom Richter als Bandit), eine Geschichte, die 1492 im von den Spaniern besetzten Sardinien spielt und deren Kern auf einer wahren Begebenheit beruht: einem Inquisitionsprozeß gegen die Heuschrecken. Parallel dazu wird die Geschichte eines sardischen Richters erzählt, der von den Spaniern nicht anerkannt und als Bandit verfolgt wird. 1991 folgte Bakunins Sohn, der 1997 von Gianfranco Cabiddu verfilmt wurde (Produktion Giuseppe Tornatore). Sein dritter Roman Il quinto passo è l'addio (Der fünfte Schritt ist der Abschied), 1995 erschienen, erzählt die stark autobiographisch gefärbte Geschichte eines jungen Mannes aus Cagliari, der nach einer Hippie-Vergangenheit und einer Zeit politischer Aktivitäten seinen Bürojob hinwirft und aufs Festland zieht.

Posthum erschien 1996 ein weiteres Werk Atzenis: Passavamo sulla terra leggeri (Leicht wandelten wir über die Erde): Hier wird die Geschichte Sardiniens von der Urzeit bis zum Mittelalter erzählt, wobei sich historische Realität und Legende vermischen. Der in Cagliari ansässige Verlag Cordaghes brachte im selben Jahr eine kurz vor Atzenis Tod geschriebene kleine Erzählung heraus: Campane e cani bagnati (Glocken und nasse Hunde): Es geht um die politisch bewegte Zeit im Frühjahr 1970 am Gymnasium "Siotto Pintor" in Cagliari, das Atzeni besucht hatte.

1999 veröffentlichte Sellerio den Band Raccontar fole (Märchen erzählen) und im Herbst 2003 erschienen, ebenfalls bei Sellerio, seine gesammelten Erzählungen von 1977 bis 1995 Gli anni della grande peste (Die Jahre der großen Pest).

Sergio Atzenis Werke wurden bisher ins Französische, Spanische, Englische und Ungarische übersetzt.

"Ich bin Sarde, ich bin Italiener, ich bin auch Europäer. Können wir von einer sardischen Literatur sprechen?" fragte sich Atzeni. Sardisch ist eine Sprache, die stark vom Spanischen und Katalanischen geprägt ist. Diese Elemente fließen auch in Atzenis Werke ein. Besonders in seinem ersten Roman Apologo del giudice bandito vermischt Atzeni das Italienisch mit Elementen des Sardischen, des Spanischen und des Lateinischen. Und er selbst benutzt in seinen Essays auch das Englische, z.B. bezeichnet er sich in einem Brief als "hungry-lonely-melancholy man". Dahinter steckt seine tiefe Überzeugung, daß Vermischung Reichtum bedeutet und sprachliche sowie kulturelle "Reinheit" nicht existiert. Er kann sich dabei auf die Geschichte Sardiniens mit ihren vielfältigen Einflüssen berufen.

Atzeni wollte in seiner Literatur die Eigenarten seiner Region darstellen, sowohl inhaltlich als auch durch die Sprache. Seine Geschichten verbinden Tradition mit der Moderne. Es geht um Themen, die genauso italienische oder europäische Themen sind wie z.B. die Arbeiterkultur und die Kämpfe der Bergleute in den Kohlengruben. Il quinto passo è l'addio ist die Geschichte eines jungen Mannes aus Cagliari, sie könnte aber auch in Bologna oder in Mailand spielen. Im Erzählband Bellas mariposas findet sich eine traditionelle Erzählung, die das dörfliche Sardinien repräsentiert, eine alte Volkslegende vom Teufel. Darauf folgt eine in der Gegenwart spielende Geschichte zweier Mädchen in einem Sozialwohnungsblock am Rande der Stadt Cagliari, in der Probleme wie Drogen, Gewalt und zerrüttete Familien thematisiert werden. Die Themen weisen über die Insel hinaus, erleben aber ihre konkrete Ausprägung auf Sardinien, in der sardischen Kultur und Sprache.

Atzenis Anliegen war es, der Kultur seiner Heimatinsel Ausdruck zu verleihen, sie anderen bekannt zu machen und sie mit anderen Elementen zu kombinieren. So gesehen war es ein Glücksfall für ihn, Texaco von Patrick Chamoiseau übersetzen zu können, in dem das Französisch mit dem Kreolisch der karibischen Inseln vermischt ist. Atzeni selbst verließ Sardinien, um in Norditalien zu leben. Seine Entscheidung, für seine Romane einen Verlag außerhalb der Insel zu suchen (zunächst Sellerio in Palermo, dann Mondadori in Mailand), begründete er in einem Vortrag: "Wenn du mit sardischen Verlegern arbeitest, dann nehmen dich die Journalisten, die Zeitungen und das Publikum nicht wahr, eigentlich existierst du in Sardinien gar nicht. Ich rede nicht vom Festland, denn wenn das so wäre, dann könnte man das noch verstehen; nein, du existierst in Sardinien nicht. In Sardinien bemerken sie dich erst, wenn du in einem italienischen Verlag veröffentlichst, dann sagen sie: 'Dich gibt es ja wirklich.'"

Diese These scheint durch die bisher einzige aus Sardinien stammende Literaturnobelpreisträgerin bestätigt zu werden: Grazia Deledda verließ als junge Frau die ländliche Gegend um Nuoro und machte erst in der Hauptstadt Rom Karriere.

Der hier vorliegende Roman Bakunins Sohn zeichnet in der Art eines Puzzles die Geschichte des Kohlenreviers um die Stadt Carbonia im Südwesten Sardiniens nach, ein glänzendes historisches Porträt, das von Erfindung lebt, aber auch viel Wahres enthält. Dazu erklärte der Autor in einem Vortrag an der Universität Cagliari: "Ich suche mir die Geschichten, ich erfinde sie nicht. [...] Die in Bakunins Sohn erzählten Begebenheiten sind in einem gewissen Sinne wirklich geschehen, wenn es auch nicht möglich ist, die einzelnen Personen im Roman wiederzuerkennen. Niemand kann zum Beispiel sagen, diese Person ist der und der, das ist mein Onkel, aber meine Geschichten sind in dem Sinne wahr, daß sie zwar nicht so geschehen sind, wie ich sie erzählt habe, doch sie hätten sich ereignen können, denn die Personen gibt es und die Realität gibt es und sie wird ganz und gar erzählt."

Der Roman erhält seine Inspiration aus Familienerzählungen. Zum Beispiel trägt der Protagonist Tullio Saba einige Züge von Atzenis Vater Licio Atzeni. Dieser war Sohn eines antifaschistischen Schuhmachers aus Guspini und arbeitete als Bergmann in Montevecchio und Carbonia. In der Nachkriegszeit war Licio Atzeni Gewerkschafter und Aktivist der Kommunistischen Partei und ihm wurde als Soldat nach Ende des Zweiten Weltkriegs von einem US-General namens Alexander für seinen Beitrag "to the cause of freedom" eine Auszeichnung überreicht. Eine weitere Inspirationsquelle war für Atzeni Leonardo Sciascias Figur des kommunistischen Schuhmachers Calogero Schirò in der Erzählung Stalins Tod.

Für Atzeni war Bakunins Sohn Teil eines Projekts, die Geschichte der sardischen Ortschaften und Regionen zu erzählen. Borges-Verehrer Sergio Atzeni betrachtete das Schreiben als Kunst und als Handwerk. Er hat das sehr schön in einem Interview ausgedrückt:

"Wenn du Wein machst, musst du den Weinberg pflegen, und das kann manchmal auch mühsam sein. Doch die Freude, wenn du siehst, wie deine Freunde mit Genuß deinen Cannonau trinken, ist dieselbe, die du empfindest, wenn du siehst, wie deine Freunde deine schriftstellerische Arbeit zu schätzen wissen, wie sie einen Schluck davon nehmen."


Andreas Löhrer, November 2003

aus: Sergio Atzeni: Bakunins Sohn. Edition Nautilus, Hamburg 2004
mit freundlicher Genehmigung der Edition Nautilus

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