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Andreas Löhrer   
literarische Übersetzungen    
aktualisiert am 10.4.2024    

Sergio Atzeni: Bakunins Sohn

VI

Als ich Tullio Saba kennengelernt habe, war ich noch ein Kind, dann habe ich ihn viele Jahre nicht mehr gesehen, ich kann mich nicht mehr genau an ihn erinnern. Doch ich habe meinen Vater über seinen Vater sprechen hören, sie waren Freunde, auch wenn sie nicht dieselben Ansichten hatten. Mein Vater sagte: "Mir gefällt es, wie Antoni redet", und vielleicht, so glaube ich, mochte er auch die gute Küche in dem Haus, und er mochte manche Weine sehr, die er nur bei Saba zu trinken bekam, wie ein Nasco di Quartu, von dem sprach er immer, er verglich ihn mit unseren Weinen und sagte: "Das ist wirklich ein Wein für vornehme Leute, er verklebt nicht den Mund und verseucht nicht die Gedanken." Ich erinnere mich daran, weil er das oft gesagt hat.

Papa hatte Angst vor der schlechten Meinung der Dorfbewohner, er wollte nicht zum Gegenstand von Klatsch und Gerede werden, und jedesmal, wenn er von seiner Freundschaft zum alten Antoni sprach, fügte er hinzu: "Mein Sohn, wenn dich jemand fragt, sag', daß Bachisio Meloni kein Anarchist ist. Er ist ein Freund von Bakunin Saba, weil er seit dreißig Jahren in derselben Straße wohnt und ihm von Bakunin Saba nie Schlechtes widerfahren ist."

Einmal sollte der damalige Pfarrer Don Sarais meine Schwester Pina firmen und hat Papa ins Pfarrhaus gerufen, um ihm zu sagen, daß, wenn er weiter mit dem Antichristen befreundet bliebe, er meine Schwester nicht firmen würde, und wenn die Zeit käme, er auch niemanden von uns Kindern in der Kirche trauen würde. Mein Vater hat versprochen, die Freundschaft aufzugeben, was hätte er denn tun sollen? Die Sakramente waren ihm wichtig. Dann ist er aber doch weiter zu seinem Freund gegangen, er ging nur im Stockdunkeln hin, so daß ihn niemand sehen und es dem Pfarrer erzählen konnte. Papa wollte eigentlich nicht lügen, doch du mußt wissen, daß dieser Don Sarais kein Einsehen hatte, im Gegenteil, ich sag es dir nur, damit du es dir vorstellen kannst, manche Leute im Dorf sagten, ihm würden vom vielen Herumspionieren die Augenbrauen um die Ecke wachsen und er hätte Segelohren vom vielen Lauschen hinter verschlossenen Türen! Er wurde halt respektiert, weil er der Pfarrer war, wenn du die Sakramente wolltest, mußtest du zu ihm gehen, aber als Mensch hatten alle etwas an ihm auszusetzen...

An das Begräbnis des alten Antoni erinnere ich mich noch genau: Tullio war noch ein Junge, er war vielleicht vierzehn, er ging steif, als hätte er einen Stock im Rücken, direkt hinter dem Sarg, mit trockenen Augen, und hielt seine weinende Mutter am Arm. Dahinter kamen wenige Verwandte und etwa zwanzig Bergarbeiter. Die Gründe für Sabas Unglück waren bekannt, es waren der Faschismus und der neue Bergwerkleiter. Vorher war das ein Franzose gewesen, der wollte, daß die Bergleute mit guten Schuhen in die Gruben stiegen, und als Schuhmacher konnte niemand mit Antoni Saba mithalten. Es hieß, er würde wirklich gute Absätze und Sohlen machen, und auch gute neue Schuhe. Er war schon zehn Jahre tot, da trug mein Vater noch Schuhe, die er repariert hatte. Der Franzose war ein guter Freund der Saba, er aß zu Abend bei ihnen, wo man wie bei reichen Leuten aß, mein Vater erzählte von gefüllten Hühnern, deren Geruch allein einem Toten die Ruhe rauben konnte, ganz zu schweigen vom Geschmack, wenn du einmal davon gekostet hattest, konntest du es nie mehr vergessen.

Es war vielleicht '34 oder '35, mein Gedächtnis ist nicht mehr so gut wie früher, obwohl ich noch nicht alt bin, und übrigens habe ich noch nie ein gutes Gedächtnis gehabt und beim Erzählen verliere ich mich in Nebensächlichkeiten, ich glaube wirklich, daß es in jenen Jahren war, da ist der neue Direktor von Montevecchio gekommen, der erste italienische Direktor, denn vorher waren das alles Franzosen. Sein Name war Sorbi, es hieß, er hätte den Marsch auf Rom mitgemacht und wäre ein Vertrauter von Mussolini, wer weiß, ob das stimmt, nach Guspini ist Mussolini ja nie gekommen. Dieser neue Direktor war erst einen Monat im Dorf, nicht länger, da hat er den Vertrag mit Antoni Saba aufgelöst. Kein gefülltes Huhn konnte ihn davon abhalten. Er haßte die Anarchisten, es hieß, er hätte in seinem Dorf mit welchen zu tun gehabt, sie hätten ihn verprügelt oder bedroht ...

Ich erinnere mich an einen Tag im Mai, das ganze Dorf war auf den Beinen, um den Lastwagen ankommen zu sehen, der war voller schön glänzender neuer Schuhe für den Laden in Montevecchio, die in Neapel hergestellt waren. Das war ein Ereignis, in Guspini Schuhe vom Festland, wo doch alle ihre Schuhe von Bakunin haben machen lassen, und davor von Bakunins Vater, und wo sie auch aus Arbus und aus Santu Ingiu kamen, um bei den Sabas Schuhe zu kaufen. Die Schuhe aus Neapel waren sehr schlechte Schuhe. Im Wasser lösten die sich auf. So sind die Bergleute zum Direktor gegangen, um zu protestieren, und haben gesagt, daß das ein schlechter Tausch gewesen wäre, und was für einer! Und der Direktor hat ihnen geantwortet: "Vielleicht habt ihr recht, aber das ist nur die erste Lieferung, die zweite wird besser sein, oder wollt ihr etwa, daß in Zeiten wie diesen ein italienisches Bergwerk sich von einem Schuhmacher beliefern läßt, der wegen seiner internationalistischen und anti-italienischen Gesinnung Bakunin genannt wird? Und wenn das der Duce erfahren würde? Glaubt ihr, daß ich dann hier weiter Direktor wäre?" So ist die Sache geendet. Die zweite Lieferung war schlimmer als die erste, und die dritte noch schlimmer als die zweite. Die Schuhe lösten sich richtig auf, nicht nur sprichwörtlich, so als wären sie aus Pappe.

Antoni hat alle Arbeiter entlassen, er hatte mehr als dreißig. Im Juli, glaube ich, ist er gestorben. Im Dorf sagten sie, er hätte sich mit einem Rasiermesser die Kehle durchgeschnitten. Andere erzählten, er hätte eine Handvoll Nägel mit Widerhaken verschluckt, die hätten ihm den Magen aufgerissen. Papa sagte aber, Bakunin sei an gebrochenem Herzen gestorben, als er sah, daß seine Werkstatt nach den ganzen Opfern zugrunde ging.

Don Sarais hat sich geweigert, für ihn die Messe zu lesen, und wollte ihn nicht einmal in geweihter Erde begraben. Und so hat er, nachdem er schon Bakunins Seele verloren hatte, auch die seiner Frau und seiner Kinder verloren. Und alle sagten, daß die Geschichte mit dem Selbstmord stimmen würde, warum hätte ihm der Pfarrer denn sonst das Begräbnis in geweihter Erde verweigert?

Papa wußte, daß Bakunin bis zum Schluß seine Gesinnung nicht geändert hatte und daß er wenige Tage vor seinem Tod gesagt hatte, er wolle auf dem Feld unter einem Baum begraben werden, ohne Kreuz und ohne Grabstein.

 

XV

Legenden werden schnell erfunden. Du gehst kurz von zu Hause weg, und wenn du wiederkommst, heißt es: "Er hat den Drachen getötet!", "Er hat bei Benfica gespielt!", "Er hat sich ein Auto gekauft!", "In Stuttgart hatte er vier Frauen!" und ähnliche Märchen. Wenn du es nicht gesehen hast, was machst du dann? Die Geschichte mit Benfica läßt sich heute in einer Minute widerlegen, aber wer hatte denn '46 schon Fernsehen? So ist es mit Tullio Saba gewesen, es hieß, er hätte sich im Krieg als Held ausgezeichnet; Wenn man manche reden hörte, so schien es, als hätte er Italien im Alleingang befreit. Es wurde erzählt, daß er zusammen mit einigen Amerikanern und Neapolitanern zu einer berühmten Patrouille von Sturmpionieren gehört hätte, die den Nazis genauso zugesetzt hätten wie Bertoldo in Frankreich.

Kommunistische Propaganda. Darauf verstehen sie sich, die Kommunisten, auf die Propaganda. Heute stehen sie vielleicht mit heruntergelassenen Hosen da, aber wenn man sie damals reden hörte, dann schien es, als wäre Josef Stalin der liebe Bruder des Heiligen Franziskus, und viele glaubten das. Wollen Sie die Wahrheit wissen? Ich habe Tullio Saba persönlich, mit diesen meinen Augen, während des Kriegs dreimal gesehen, in Neapel, und alle drei Male in den spanischen Vierteln. Soldat? Ein Geck, gelinde gesagt. Er praßte wie ein Amerikaner, hatte sich mit der Familie einer Prostituierten eingelassen, die mindestens zwanzig Zentimeter größer war als er, mit ihnen lebte er in einer Kellerwohnung in einer Gasse, die von den Amerikanern Gomorrha genannt wurde, und der Name sagt schon alles.

Ein Held? Er hatte neapolitanische Freunde, wie ich schon gesagt habe, und amerikanische Freunde, vor allem Neger. Pack versteht sich eben. Aber sie verschwendeten keinen Gedanken an die Deutschen. Sie hatten einen Komplizen in der Via Toledo. Einer von der Camorra, ich weiß nicht wer, Gennaro oder so ähnlich. Das sage ich, weil ich es von höchst vertrauenswürdigen Leuten gehört habe, an die ich mich gewandt hatte, um zu erfahren, was dieser wiederauferstandene Lazarus machte, dieser aufgeblasene Emporkömmling, den ich in Carbonia im Bergwerk als Hungerleider kennengelernt hatte; und der nun mit Geld um sich warf wie ein Pascha.

Der Komplize kaufte bei ihnen ein und verkaufte auf dem Schwarzmarkt weiter. Militärklamotteh natürlich. Schuhe, da braucht man sich nicht zu wundern, auch im Bergwerk kam er mit Schuhen an, die ich mir als Aufseher, der viermal so viel wie er verdiente, nicht leisten konnte. Und Zigaretten, und auch das ist kein Wunder, wer ihn so gut kannte wie ich, hat ihn immer mit einer Zigarette im Mund gesehen. Und Alkohol, auch in Carbonia war er immer betrunken, und ich wußte, daß er Frauen belästigte und sich dabei den Alkohol zunutze machte ... ein schöner Schlaukopf ... Ein halber Gauner ... Und auch Sie, wenn Sie meine Meinung hören wollen, und auch wenn Sie sie nicht hören wollen, sage ich sie Ihnen, da Sie ja zu mir gekommen sind, warum wollen Sie denn die Geschichte dieses Mannes ausgraben? Wäre es nicht besser, sie in der Versenkung zu lassen? Wissen Sie, was passiert, wenn man in der Scheiße rührt? Das wissen Sie, Sie sehen intelligent aus. Schreiben Sie über Bordelle, über schöne Frauen, über mutige Führer und über glückliche Menschen, wenn Sie eine Geschichte des Faschismus schreiben wollen, glauben Sie mir, das bringt mehr, und dann waren wir damals, von einigen Dreckskerlen abgesehen, in Wirklichkeit alle Faschisten und es ging uns gut dabei. Und der Krieg war eine Sauerei mit amerikanischen Schiebern, Nutten, Negern und italienischen Verrätern wie Saba. Und wenn Sie auf meinen intelligenten Rat hören, dann meiden sie vor allem die üblen Gestalten, denn Saba war ein dummer Bauerntölpel. Lassen Sie sich das von einem sagen, der ihn persönlich gekannt hat. Und nehmen Sie sich den Ohrring raus, seien Sie nicht beleidigt. Ich weiß, daß mich das nichts angeht, aber es deprimiert mich, wenn ich euch junge Leute mit diesen Ohrringen sehe! Wo soll das denn noch enden!

aus: Sergio Atzeni: Bakunins Sohn. Edition Nautilus, Hamburg 2004
mit freundlicher Genehmigung der Edition Nautilus

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